Goldene Regel
Wenn man mich fragt, was mich – abgesehen vom Persönlichen und Pfarramtlichen – im Moment besonders beschäftigt, so lässt sich die Antwort mit einem Wort geben: Ethik! Ethische Fragestellungen beginnen in meinem Alltag: Wenn ich mich frage, wie die Kleider produziert wurden, die ich trage, welche Produkte ich wo einkaufe, wie warm ich die Radiatoren einstelle, wie lange ich dusche, mit welchem Verkehrsmittel ich unterwegs bin, an wie vielen Tagen Fleisch auf meinen Teller kommt u.v.m. Natürlich zeigt sich meine ethische Einstellung auch darin, welche Politiker/-innen ich wähle und wie ich mich im Gespräch zu den aktuellen Themen äussere.
Ethik fragt nach meiner Haltung und Einstellung und gleichzeitig nach meinem Verhalten und Handeln. Sie tritt dabei einen Schritt zurück, will einen Moment innehalten und auf einer Meta-Ebene fragen, was denn eigentlich mein Verhaltenskodex ist, was meine Leitlinien und rundüberzeugungen sind, die mich zu den konkreten Alltagshandlungen bringen. Aber dieser Schritt zurück, dieses innehalten und sich fragen, ob das, was man macht, eigentlich zu verantworten ist, das fehlt mir immer mehr. Nach meiner Wahrnehmung spielt eine christlich fundierte Ethik eine immermarginalere Rolle in unserer Gesellschaft. Politische Entscheidungen werden kaum mehr aufgrund von christlich-ethischen Werten gefällt. Die Parteimacht und Werbebudgets, Lobbyieren und die Medienpräsenz spielen die wichtigeren Rollen als alle noch so guten Argumente. Es wird in unseren Parlamenten auf nationaler und kantonaler Ebene immer schwieriger, eigentliche überparteiliche Sachpolitik zu betreiben. Sogar im Bundesrat werden offenbar zunehmend Partei- und Eigeninteressen vertreten. Das widerspricht dem aktuellen Bundesratsfoto, das uns glauben macht, die «Landesmütter und -väter» seien Teil des Volkes und das Volk und seine Anliegen seien das Wichtigste. Da kann man nur noch hoffen, kaum noch glauben! Ich gehe schon davon aus, dass die meisten Politiker es gut meinen und ihr Mandat ernst nehmen. Aber längst ist eine Eigendynamik im Gange, eine egoistische Struktur des vermeintlichen Rechts auf Wohlstand, auf Kosten der weniger Privilegierten. Aus diesem Teufelskreis des «immer mehr» entkommt man nur schwer; und nur, wenn man hin und wieder zumindest versucht, eine Aussensicht auf die scheinbar unveränderlichen Mechanismen in unserer westlichen Welt zu gewinnen. Dafür braucht es u.a. Ethik - und zwar eine Ethik, die nicht selber schon Parteinahme ist, sondern die um der Menschen oder der Sache willen geschieht und mit Geduld, Ausdauer und Verantwortung nach der besten Lösung oder Entscheidung sucht. Am «Tisch der Ethik» müssten deshalb alle Beteiligten sitzen, nicht nur die besonders Einflussreichen. Dabei wünsche ich ganz allgemein für die Diskussion der Fragen unserer Zeit mehr Toleranz und Beweglichkeit, mehr Bonus-Vertrauen und Grosszügigkeit aller Gesprächsteilnehmenden, dass es eigentlich allen um die beste Lösung geht. Es ist gut, eine eigene Meinung und Überzeugung zu haben und gleichzeitig auch eine offene Haltung und den Wunsch, von allen Gesprächsteilnehmenden lernen zu wollen.
Bei der Frage nach dem Sabbatgebot hat es Jesus einmal auf den Punkt gebracht: «Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.» (Markus 2, 27) Es soll doch bei allen politischen, ethischen, wirtschaftlichen Entscheidungen darum gehen, dass – vor allem bedürftige – Menschen profitieren können. Wenn man sich dabei an die goldene Regel aus der Bergpredigt (Matthäus 7, 12) halten würde, dann ginge es uns wohl allen besser (und dies in einem ganzheitlichen Sinn). Die goldene Regel ist übrigens in praktisch allen Weltreligionen zu finden und lautet: «Behandle alle Menschen so, wie du selbst behandelt werden willst». Warum nur leben
wir so wenig nach dieser überzeugenden Maxime!?
Daniel Hintermann, Pfarrer